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Ehrung für Enver Şimşek in Jena

Der Mensch Enver Şimşek

Foto von Enver Simsek ©dpa

Enver Şimşek kam 1962 in der Türkei zur Welt. Er wuchs in Salur, einem kleinen Ort in der Provinz Isparta auf. 1978 heiratete Enver Şimşek seine Frau Adile. 1986 kam seine Tochter Semiya und ein Jahr später sein Sohn Abdulkerim auf die Welt.

1985 gingen Enver und Adile Şimşek nach Deutschland. Enver Şimşek begann zunächst in einer Fabrik am Fließband zu arbeiten bevor er sich 1992 seinen Lebenstraum erfüllte und sich als Blumenhändler selbstständig machte. Mit seiner Familie zog er nach Schlüchtern, wo er eine Fabrikhalle anmietete und einen Blumenhandel eröffnete. 

Der 9. September 2000 in Nürnberg

Enver Şimşek vertrat am 9. September 2000 einen Kollegen an einem Verkaufsstand in Nürnberg, da dieser im Urlaub war. In Nürnberg betrieb er mit seinem Blumenhandel an einer Waldeinfahrt in der Liegnitzer Straße einen mobilen Verkaufsstand. 

Zwei Stunden nach der Tat wurde Enver Şimşek blutüberströmt in seinem Mercedes-Lieferwagen entdeckt. Neben seinem mobilen Verkaufsstand hatten zwei Täter ihn mit acht Schüssen aus einer Ceska 83 (Kaliber 7,65) „regelrecht hingerichtet“. Zwei Tage später erlag er im Krankenhaus seinen Verletzungen, ohne das Bewusstsein wiederzuerlangen. Enver Şimşek war das erste Opfer der rechtsextremistisch motivierten Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU).

Wir erinnern an die Opfer des NSU

Enver Şimşek ermordet am 9. September 2000 in Nürnberg, 38 Jahre alt

Abdurrahim Özüdoğru ermordet am 13. Juni 2001 in Nürnberg, 49 Jahre alt

Süleyman Taşköprü ermordet am 27. Juni 2001 in Hamburg, 31 Jahre alt

Habil Kılıç ermordet am 29. August 2001 in München, 38 Jahre alt 

Mehmet Turgut ermordet am 25. Februar 2004 in Rostock, 25 Jahre alt

Ismail Yaşar ermordet am 9. Juni 2005 in Nürnberg, 50 Jahre alt

Theodoros Boulgarides ermordet am 15. Juni 2005 in München, 41 Jahre alt 

Mehmet Kubaşık ermordet am 4. April 2006 in Dortmund, 39 Jahre alt

Halit Yozgat ermordet am 6. April 2006 in Kassel, 21 Jahre alt

Michèle Kiesewetter ermordet am 25. April 2007 in Heilbronn, 22 Jahre alt 

Morde, verübt durch Menschen, die aus Jena kamen, hier aufwuchsen und sich hier politisch sowie menschlich radikalisierten. Morde, ermöglicht durch ein vielfältiges Unterstützernetzwerk und das Versagen staatlicher Behörden. In Deutschland, in Thüringen, in Jena.

Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen

Erst mehr als elf Jahre nach dem Mord an Enver Şimşek kam es zur Selbstenttarnung der NSU- Kern-Trios. Durch Zufall, nicht infolge der Ermittlungen zuständiger öffentlicher Behörden.

Bis dahin sahen sich die Opfer und deren Familien Ermittlungen und Verdächtigungen ausgesetzt, die einen rechtsradikalen, rassistischen Hintergrund ausschlossen und sie als Betroffene kriminalisierten. 

Auf der Trauerfeier für ihren ermordeten Vater Enver sprach seine Tochter, Semiya Şimşek, von der zweiten Traumatisierung, die ihrer Familie widerfahren sei. Sie durften nach dem Mord nicht Opfer sein, sondern wurden zu Verdächtigen gemacht. Vor diesem Hintergrund müssten der Familie die unzureichenden Versuche der juristischen und politischen Aufarbeitung der letzten Jahre mittlerweile wie eine dritte Traumatisierung erscheinen, beklagte der Jenaer Oberbürgermeister Dr. Thomas Nitzsche in seiner Rede anlässlich der Einweihung des Denkmals in Jena am 19. September 2020.

Abdulkerim Şimşek war wenige Tage zuvor 13 Jahre alt geworden, als am 9. September die Täter des "Nationalsozialistischen Untergrundes" seinen Vater Enver aus nächster Nähe niederschossen.

2014 veröffentlichte der Herder Verlag eine Aufsatzsammlung unter dem Titel "Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet". Herausgeberin war Barbara John, seit 2012 Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der Opfer der NSU-Morde.

Der Verlag veröffentlichte darin auch den Bericht von Abdulkerim Şimşek: "Ohne meine Religion wäre ich in Hass versunken". Abdulkerim Şimşek, Sohn Enver Şimşeks, erzählt.

Im Text versucht sich Abdulkerim Şimşek an seinen Vater zu erinnern, und zwar "als Kind" zur Tatzeit, an die Folgen des rassistischen Mordanschlags für seine Familie, an sein Verhältnis zu Deutschland, wo er im Unterschied zu seinem Vater geboren wurde, also an sein Heimatland, das er nicht verlassen möchte, an seinen Glauben als Muslim und seine Forderungen an die deutschen Ermittlungsbehörden.

Wir danken für die freundliche Genehmigung des Herder Verlags, den Bericht von Abdulkerim Şimşek online veröffentlichen zu können.

Jena-Winzerla

Gedenktafel für Enver Şimşek am Enver-Şimşek-Platz in Jena Winzerla Gedenktafel am Enver-Şimşek-Platz in Jena Winzerla ©Kristian Philler

In Jena-Winzerla, dem Standort des Denkmals, befand sich in der Hugo-Schrade-Straße das alte Jugendzentrum „Hugo“ (vormals Winzerclub), in welchem sowohl die Täter Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe als auch ihre maßgeblichen Unterstützer Ralf Wohlleben, André Kapke, Carsten Schultze, Holger Gerlach und andere Neonazis über lange Zeit ungestört und unkritisiert aktiv sein konnten. Winzerla, aber auch die Jenaer Stadtteile Alt- und Neulobeda bildeten seit den Neunziger Jahren über lange Zeit die Rückzugs- und Rekrutierungsräume der Jenaer Neonazi-Szene. Hier konnten die Täter und ihr Netzwerk ungestört wachsen und sich bis zum Untertauchen des NSU-Trios 1998 immer weiter radikalisieren. 
Beide Stadtteile waren in den Neunzehn-Neunzigern zeitweise No-Go-Areas für Menschen, die offensichtlich nicht rechtsradikalen „Werte“-Entwürfen entsprachen. Vor allem die ersten 15 Jahre nach der Wende sind in ganz Jena gefüllt mit Erfahrungen von Gewalt, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Mahnende Stimmen, dass es hier ein Problem mit Rechtsextremismus und Gewalt gibt, wurden nicht ernst genommen.

Erst seit Mitte der 2000er erhob eine erstarkende Jenaer Zivilgesellschaft wahrnehmbar die Stimme gegen diese Entwicklungen. 

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen dieser Zeit und der Verantwortung, welche die Stadt Jena gegenüber den Opfern des NSU und deren Familien übernommen hat, gilt es heute diese Erinnerung nicht vergehen zu lassen. Vor allem angesichts des Erstarkens neuer Rechter, welche versuchen, jegliches Fundament unserer Demokratie und unseres humanistischen Wertesystems aus den Angeln zu heben.

Gedenkort Enver-Şimşek-Platz

Straßenschild und Plakat zur Einweihung des Enver-Şimşek-Platzes in Jena Gedenken in Jena: Einweihung des Enver-Şimşek-Platzes 2020 ©Stadt Jena

Am 19. September 2020 wurde deshalb in Winzerla der Enver-Şimşek-Platz eingeweiht. Oberbürgermeister Dr. Thomas Nitzsche rief die Namen aller Opfer namentlich auf und bat die Hinterbliebenen um Entschuldigung für das Versagen der Behörden und der Gesellschaft. 

Er bat bei allen Hinterbliebenen um Entschuldigung für das Versagen der Behörden in Jena wie im Land Thüringen, aber auch für das Versagen der gesamten Gesellschaft. An die Familie Şimşek gewandt, dankte der Oberbürgermeister Adile Şimşek, Semiya Şimşek, Demirtas mit Yigit Can, Melike Şimşek und Abdulkerim Şimşek, dass sie nach Jena gekommen waren, um an der Weihung des Platzes teilzunehmen.

Dr. Thomas Nitzsche versicherte in seiner Rede, mit der Benennung des Platzes sei die Aufarbeitung dieses Versagens nicht abgeschlossen. Vielmehr müssten wir in Jena weiterhin an die Opfer erinnern, die Versäumnisse und Verantwortung der Stadt aufarbeiten und dafür Sorge tragen, dass so etwas nicht noch einmal geschehen könne.

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